mardi 28 mai 2024

Erscheinung und Verwandlung

Eine Erscheinung ist etwas Großes
Aber erfordert Verwandlung.
Betrachte ich das Röntgenbild meines Brustkorbs
Auratisch silbern und für das Kind in mir beängstigend
Ja des Gehirnes Schnitte aus der Perspektive des Tomographen
Sehe ich dennoch aus wie jeder andere.
Um ein möglicherweise Unverwechselbares zu erkennen
Muss man erstens Medizin studiert
Und zweitens einen schwerkranken Menschen vor sich haben.
Betrachte ich mich mit Haut und Haaren, oder jedenfalls
Dem Rest davon, im getreuen Spiegel
Sehe ich zwar ein klein wenig persönlicher aus
Aber immer noch nicht so ganz besonders individuell.
Die, die so ganz besonders individuell aussehen
Beherrschen die hohe Kunst der Verwandlung.
Es ist die stilvolle Fliege oder eine auffällige Brille
Was ihnen den unverwechselbaren Charakter verleiht.
Wer auf eine solche Fliege und eine derartige Brille verzichtet
Verzichtet auf die ins Auge stechende Persönlichkeit
Und geht nachgerade in der Menge unter.
Wer auf eine derartige Fliege und eine solche Brille verzichtet
Verzichtet darauf, jemand Besonderes zu sein
Und kann niemanden beeindrucken.
Trägt er indes eine solche Fliege und eine derartige Brille
Ist er entweder ein bedeutender Dichter
Oder bei der Gewerkschaft.

Die gesellschaftliche Bedeutsamkeit des Gewerkschaftlers
Wollen wir hier ausnahmsweise beiseite lassen
Aber Franz Kafka zum Beispiel
Dessen altertümlicher Hut hier nicht zur Debatte steht
Und den wir heute alle kennen
Soll Max Brod zufolge zeit seines Lebens
Ein ziemlich unauffälliger Mensch gewesen sein, im
Kleinen Freundeskreis einigermaßen lebhaft, ja schnell erregt
Jedoch in größerer Gesellschaft lächerlich still und zurückhaltend.
Dieses ausgesprochen durchschnittliche Verhalten für einen
Der sich anscheinend so seine Gedanken macht
Ist ein kaum verständlicher Skandal
Angesicht einer hinterherigen Berühmtheit, die so vollkommen ist
Dass einem davon geradezu schwindlig werden kann.
Damit die Dinge wieder ins Lot kommen
Dichtet man ihm billigerweise jene Exzentrik hinzu
Die nun einmal eine Grundvoraussetzung ist
Und man behauptet sogar, er habe äußerlich Kafka geähnelt.
Er muss es aushalten, der Franzl
Es ist der Preis, den er dafür zahlen muss
Dass er so unerwartet aus der Dunkelheit gezerrt werden durfte.

28. Mai 2024

dimanche 12 mai 2024

Authenticity

Clapton im Fern. Zuerst bin ich ziemlich angetan, die eigene Jugend spricht: Dieser ausgesprochene Brite imitierte die schwarzen Amerikaner doch erstaunlich gut; ein klein wenig falsch klingt es, aber egal, loben wir den guten Willen. Dann erinnere ich mich allerdings daran, dass er seltsame Reden schwang, hunderte Millionen schwer ist und seinerzeit unbezahlbare Automobile erwarb, obwohl er keinen Führerschein besaß. Insofern nur folgerichtig, dass so einer über Probleme sang, die niemals die seinen waren noch je sein können, er beutete das Ghetto mithin schamloser aus als die meisten anderen, keiner seiner dunkelhäutigen Meister, kein „authentischer“ Bluesman hat mit seiner Kunst denn auch nur annähernd so reichlich Kasse gemacht wie dieses weiße Idol weißer Jugend. Deren Narzissmus ließ sie bei allem romantischen Fernweh dem Original den Imitator vorziehen, in dem sie sich nun einmal wiedererkannte. Als gemütvolle Masse möchten wir nicht über den eigenen Schatten springen, nur das langwierige Dazulernen des Einzelnen hilft eventuell.
Nun, die einzige Freude, die sich ein garstiger Beethoven im Alter noch machen konnte, war die, eine Musik zu erfinden, die er selbst nicht mehr zu hören vermochte. Doch gibt es überhaupt eine andere?


Life’s threat is not the thread by which it hangs
It is the broken harp chord of its coveted events:
Thou shalt not strike another’s chord –
Art proves too short.

The awkward tune we’re keen to play
Will drag us down in its decay.

Don’t ever ask one to innovate –
We’re mainly apt for imitating
And if so, deeply pulled into abating;
For all their drive, art’s urges burn too late.

May 12, 2024